Robin
Der Regen fiel prasselnd auf die kaum befahrenen Straßen. Das Wetter zwang die Menschen, drinnen zu bleiben.
Der Teil einer Straße wurde durch ein kleines Restaurant erleuchtet, welches kaum gefüllt war. Ein Mann saß am Tresen, trank bereits sein fünftes Bier innerhalb einer Stunde und raunte immer nach mehr. Was ihn wohl zu solch einem Besäufnis trieb?
Weiter entfernt, in einer Ecke des Restaurants, saß ein junges Pärchen, welches nicht auf das Essen vor ihnen achtete, sondern sich einigen innigen Küssen hingab.
An einem Fensterplatz auf einer der lederbezogenen Sitzbänke und nach draußen schauend saß sie. Ein wunderschönes schwarzhaariges Mädchen mit blauen Augen. Ihr Name? Robin. Ihr Alter? Ungewiss.
Sie saß da, schaute auf die Straße, welche das Licht der Straßenlaternen und des Restaurants durch das darauf verweilende Wasser des Regens widerspiegelte.
Die Tageszeitung vor ihr würdigte sie bisher keines Blickes. Schließlich seufzte sie, nahm die Zeitung in die Hand. Während sie auf die Bedienung wartete, die sich nebenbei reichlich Zeit ließ, konnte sie ja einen Blick hinein werfen.
Auf den ersten beiden Seiten der Zeitung war nichts Außergewöhnliches. Ein Mann kam bei dem Versuch, seine Familie aus einem brennenden Haus zu retten, ums Leben. Eine Prominente hatte ihr erstes Baby bekommen und weiterer Unfug, dem man sich eigentlich nicht widmen sollte. Auf Seite drei allerdings war ein kleiner Artikel auf der linken, unteren Seite, der Robin zum Stocken brachte.
Zeugin gesucht für Mord an Elisabeth und Paul K.
Am vergangenen Tage, zur Mittagszeit, wurden die Leichen des Ehepaares Elisabeth und Paul K. in der Küche ihres Hause entdeckt.
Nachbarn haben diesen grausamen Fund sofort der Polizei gemeldet. Laut Kriminalpolizei geht man von einem Mord aus, da das Ehepaar schwere Schnitt-, Biss- und Kratzwunden aufwies.
Laut Nachbarn hauste seit geraumer Zeit ein Mädchen bei dem Ehepaar, welches jedoch seit dem Vorfall unauffindbar ist. Die Polizei sucht dieses Mädchen dringend, da sie womöglich Hinweise zum Tathergang kennt und sehr wichtig für die weiteren Ermittlung scheint. Hiermit appelliert die Polizei an das Mädchen, dessen Aussehen wir allerdings nicht beschreiben können, da keinerlei Beschreibungen, nicht einmal der Nachbarn, vorliegen.Sie wurde also gesucht... als Zeugin? War es nur eine Masche der Polizei, oder suchten sie sie tatsächlich nur, weil sie eine wichtige Zeugin in dem Fall spielt? Die Zeitung schien auch nicht von heute zu sein...
„Kann ich Ihnen etwas bringen?“, drang die Stimme der Kellnerin an ihr Ohr und sie zuckte leicht zusammen, blickte sofort auf. Jung, blond, mit einem nervösen Lächeln dastehend, schaute sie Robin an. Robin lächelte ihr aufmunternd zu, brachte sie jedoch nur weiter aus dem Konzept.
„Ich hätte gerne die Nr. 21 und eine Cola, wenn das geht“, erlöste sie die Kellnerin, welche kurz nickte und sofort verschwand.
Diese Wirkung, die Robin bei jedem Menschen, egal ob männlich oder weiblich, erzielt, ist immer wieder erstaunlich.
Sie zählte die Sekunden, bis das Essen fertig war. Nach 913 Sekunden bekam sie ihr Steak und die Pommes, drückte auf das blutige Fleisch, welches sofort die Pommes durch den Fleischsaft rötlich färbte. Oma... Opa, das hätte nie passieren dürfen...
Tegan
„Ich bekomme hier bald echt eine Krise!“, tobte Tegan und fuhr mit ihren Händen durch ihr schulterlanges, braunes Haar, ihre grünen Augen auf keinen bestimmten Punkt richtend.
Das Zimmer, in welchem sie sich befand, war sehr klein. Ein Schlafsofa war in eine Ecke gequetscht, der Schreibtisch war nahe des einzigen Fensters in dem Raum, der Schlaf- und gleichzeitig ihr Arbeitszimmer war. Ihr bester Freund Zorro saß auf dem Schlafsofa, wobei es eher ein liegendes Sitzen war und zupfte an einem Kissen herum.
„Was'n los?!“, fragte er, blickte jedoch nicht empor, sondern widmete sich weiter dem Ausfransen des Kissens.
„Es kann doch nicht sein, dass sie noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat“, sagte Tegan missmutig und ordnete die unzähligen losen Blätter, die sie vor Wut über ihren gesamten Schreibtisch fliegen gelassen hatte.
„Aber es haben doch schon ein paar ihr Gesicht gesehen“, begann Zorro und Tegan blickte zu ihm, leicht verwirrt und überrascht.
„Wie meinst du das?“, unterbrach ihn Tegan.
„Naja, aber die sind alle tot“, beendete Zorro den von Tegan unterbrochenen Satz und sicherte sich somit einen wütenden Blick Tegans.
„Als ob ich das nicht selber weiß!“, fauchte sie ihn an, er verstummte und schaute beschämend auf das Kissen, welches er schon die ganze Zeit auseinander zupfte.
„Ach, hör mal Tegan.... warum tust du dir das jetzt überhaupt noch an? Schreib doch einen Artikel über... was weiß ich, den Zweiten Weltkrieg. Wieso deine Zeit für einen Artikel über eine Mörderin verschwenden, wenn man kaum Anhaltspunkte hat. Außerdem ist noch nicht einmal KLAR, dass sie eine Mörderin ist. Es ist sinnlos, Tegan, sieh es ein.“ Tegan lehnte sich an die Rückenlehne ihres Stuhls, verschränkte die Arme hinter den Kopf und blickte an die weiße Decke des Zimmers, seufzte einmal und schloss kurz die Augen.
„Weißt du, ich will unbedingt die Stelle als Journalistin. Dieser Fall kann so brisant sein, nein, er WIRD so brisant sein, dass man mir diesen Job einfach geben muss! Ich werde jetzt nicht plötzlich irgendeinen anderen Artikel über eine Sache schreiben, über die schon Tausende berichtet haben, oder die einfach irre langweilig und einfach uninteressant ist. 'Nico' Robin ist der Schlüssel für meinen absoluten Traumberuf!
Zorro zupfte seine Hose zurecht, als er aufstand, verdrehte die Augen und blickte Tegan mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck an.
„Mach, was du willst. Ich werde dir das nicht ausreden, aber...“
„Das würdest du auch nicht schaffen“, sagte Tegan prompt und schaute zu ihrem besten Freund.
„ ...pass auf dich auf, ja? Sonst kann das wirklich böse für dich enden“, fuhr Zorro unbeeindruckt von Tegans Worten fort, drückte die Klinke der Tür runter und nickte ihr zum Abschied zu.
Als er das Zimmer verlassen hatte, Tegan die Eingangstür ins Schloss fallen hörte, seufzte sie.
„Wenn ich nicht bald etwas Gutes zustande bringe, endet es tatsächlich böse für mich.“
Robin
Sie wachte inmitten eines Waldes auf, in einer Pfütze liegend und nicht wissend, was geschehen war. Doch es scherte sie in dem Moment ihres Erwachens nicht, als sie ein stechender Schmerz, der von beiden Schulterblättern kam, aufschreien ließ. Schmerzerfüllt ertastete sie eigenartige Schnittwunden an den Schmerzstellen. Flach atmend, panisch und verwirrt blickte sie sich um. Ein Wald, so dicht, dass nur wenig Licht die Umgebung erhellte.
Das wenige Licht, was ihr zur Verfügung stand, nutzte sie, um sich zu betrachten, ihren ganzen Körper auszukundschaften. Alles schien ihr fremd, SIE schien sich fremd. Mit angestrengter Miene versuchte sie sich an etwas zu erinnern, etwas, das ihr half, zu verstehen. Doch, so sehr sie sich auch anstrengte, sie war nach wie vor ahnungslos. Ob es überhaupt etwas gab, an das sie sich erinnern sollte?
Sie setzte sich in Bewegung, stapfte durch den dichten Wald, durch das nasse Laub, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich sollte, was der richtige Weg war. Mit der Zeit schwanden ihre Kräfte und schließlich sackte sie zu Boden und wurde ohnmächtig.
„Guten Morgen, meine Schöne“, drang eine Stimme an Robins Ohr. Vom Licht geblendet und von der Stimme erschrocken wachte sie auf, musste sich eine Zeit lang an das gleißende Licht gewöhnen, bis sie die Frau neben sich sah. Es war eine ältere, grauhaarige, dennoch sehr freundlich lächelnde Frau.
„Wie geht es dir?“, fragte sie und setzte sich auf einen Stuhl nahe des Bettes, auf dem Robin lag.
„Gut“,antwortete Robin knapp, schaute an die Decke und versuchte, die alte Frau nicht anzugucken.
Jetzt, da Robin wach war, konnte die alte Dame ihr Fragen beantworten lassen, die sich während der Bewusstlosigkeit Robins angesammelt hatten.
„Was hattest du denn allein in diesem Wald verloren?“
„Ich weiß es nicht“, murmelte Robin, immer noch darauf achtend, die Frau nicht anzusehen.
„Weißt du denn wenigstens, wie alt du bist?“
Robin schüttelte den Kopf, ließ die alte Dame von „Gedächtnisverlust“ und „Gehirnerschütterung“ reden.
„Hier, trink. Ruhe dich aus und dann werden wir sehen, was wir mit dir machen“, lächelte die alte Dame nun, reichte Robin eine Tasse Tee, stand auf, ging zur Tür, als Robin sich plötzlich räusperte.
Die alte Dame blickte sich um, wartete auf das, was Robin sagen wollte.
„Mein Name... ist Robin.“
Die Frau lächelte und verließ den Raum.
Zwei ganze Jahre lebte Robin bei dem Ehepaar, wurde das Lesen und Schreiben gelehrt, allerdings nie auf eine Schule geschickt. Oma und Opa, wie sie ihre Pflegeeltern nennen durfte, wollten Robin anscheinend nicht bei den zuständigen Behörden melden.
In der Zeit, als Robin bei ihnen war, fielen ihr viele Sachen auf. Sie war anders als die Menschen in ihrem Alter und der Umgebung. War schlauer und reifer. Doch das hinderte sie nicht an einem harmonischen Zusammenleben mit den anderen. Und doch zerstörte sie mit einem Mal das, was sie neu gefunden, schätzen und lieben gelernt hatte.